Vanessa Eileen Thompson
Die gegenwärtige Krisensituation, in deren Kontext Corona eher als Auswirkung denn als Ursache zu betrachten ist, bringt die Logik der Ungleichheit, die dem europäischen Projekt innewohnt, einmal mehr schonungslos ans Tageslicht. Doch was Corona, oder vielmehr die Corona-Politik aufzeigt, ist nicht nur, dass in der Krise nicht alle gleichgestellt sind, obwohl das Virus selbst keine Unterscheidung vornimmt, sondern dass lebenserhaltende Maßnahmen für die Einen im direkten Zusammenhang mit dem frühzeitigen Tod Anderer stehen. Systemrelevante Arbeitskräfte – in erster Linie aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Rasse oder ihrer Herkunft benachteiligte Arbeitskräfte (in Supermärkten, im öffentlichen Transportwesen sowie Pflegekräfte jeder Art) – sind nicht nur für die soziale Reproduktion der Gesellschaft unabdingbar, sondern sie sind auch ersetzbar und dem Virus sowie dem Risiko eines frühzeitigen Todes besonders ausgesetzt. Während Einige von uns von Zuhause aus arbeiten können, sei es auch häufig unter schwierigen und insbesondere geschlechtsdiskriminierenden Bedingungen, werden Andere, zumeist die ausgegrenzten, armen, der Arbeiterschicht angehörenden, obdachlosen, illegalisierten, rassifizierten Anderen, entweder auf eine Art der Systemrelevanz, jedoch ohne Anerkennung ihres Wertes, reduziert, oder in Auffanglagern, Gefängnissen oder Haftanstalten festgehalten und in die Redundanz gezwungen. Auf globaler Ebene sind die Impfpolitik sowie die Politik zum weltweiten Umgang mit Medikamenten- und geistigen Eigentumsrechten im Begriff, das Gesundheitswesen in zunehmendem Maße als Treiber einer globalen gesundheitlichen Apartheid zu missbrauchen.
Die Krise gibt uns Anlass, über Europa als epistemisches, politisches, wirtschaftliches, kulturelles und darüber hinaus subjektives Projekt nachzudenken. Seien es die nekropolitischen Reaktionen auf die Flucht und Einwanderung von Migranten, Flüchtlingen und Asylsuchenden; die zunehmende neoliberale Versicherheitlichung und polizeiliche Überwachung, die einhergeht mit intersektionalen Vektoren der Verwundbarkeit; oder die staatlich sanktionierte Abkehr von verwundbaren Gruppen durch Unterfinanzierung und Einsparungen – es ist an der Zeit, Europas maßgebliche Paradigmen und Konzepte wie Schutz und Sicherheit, Bürgerrechte, Gleichstellung und Solidarität grundsätzlich zu hinterfragen und zu überdenken. Ich würde sogar behaupten, dass es mit den Worten Frantz Fanons erforderlich ist, dieses Europa zu verlassen. Die grundlegenden Probleme, mit denen wir uns heute konfrontiert sehen, die Logik des rassifizierten und geschlechtsdiskriminierenden Kapitalismus, der Ausbeutung und Zerstörung natürlicher Ressourcen, der Enteignung und Zwangsvertreibung, der zunehmenden Versicherheitlichung und strengeren Grenzpolitik, der Massenabkehr von in die Redundanz getriebenen Bevölkerungsgruppen sowie der gesundheitlichen Apartheid lassen sich nicht durch Formen liberaler Inklusion lösen (wie Inklusion in ein Regime liberaler Bürgerschaft, liberalen Eigentums etc.). Dieses Europa zu verlassen, bedeutet in Fanons Sinne, die grundlegenden politischen und sozialen Kategorien, Volkswirtschaften und Beziehungen zu durchbrechen, und zugleich in unseren Köpfen neue Weltordnungen zu konzipieren.
Vanessa E. Thompson ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Vergleichenden Kultur- und Sozialanthropologie an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. kritische Rassismus- und Migrationsforschung, Black Studies, intersektionale Geschlechterforschung, Abolitionismus und transformative Gerechtigkeit. In ihrem derzeitigen Projekt untersucht sie Formen des Polizierens von Schwarzen Menschen, Widerstände und abolitionistische Alternativen in Europa. Sie engagiert sich in diesen Bereichen auch aktivistisch und ist u.a. Mitglied in der Internationalen Unabhängigen Kommission zur Aufklärung der Wahrheit über den Tod von Oury Jalloh.