Esoterik

Clara Schließler

Es geht hier nicht in erster Linie darum, sich an einer starken Vaterfigur zu orientieren, einen Führer zu wollen und unser schwaches Ich durch Teilhabe an seiner Macht zu stützen.

Nein, Papa wird über Bord geworfen. Er konnte nicht tanzen.

Wir wollen weiter zurück. Zum Anfang. Zum allerersten Anfang, wo es noch gut war.

Mama!

Da kommt man durch Fließen hin, durch Biegen, durch Hände zu Herzen formen, durch Flow, durchs Internet, durch Sterne auf unseren T-Shirts, durch sich wie Sophie fühlen oder mit Anne vergleichen (was ist mit Hans?), durch Augenschließen, durch Liebe und Toleranz auch für Schwarz-Weiß-Rot, durch das Gefühl, dass alles einfach ist, genau so richtig,

durch Verleugnen der Realität.

Es geht hier um Verschmelzen, um Ungetrennt-Sein, Eins-Sein.

Womit?

Mit wem?

Warum?

Eine Hinwendung zur Esoterik kann als Versuch verstanden werden, mit der eigenen Ohnmacht umzugehen, wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse zu undurchschaubar werden. Statt jedoch die gesellschaftlichen Quellen der eigenen Ohnmacht zu analysieren, wird die Ohnmacht angenommen und bejaht. Damit unterwirft man sich einer immerwährenden Lehre bzw. der Autorität des „Schicksals“ oder der „Natur“ (mit der in ihr mitunter noch vermuteten Göttlichkeit) – im latenten Wunsch, so mit all dem zu verschmelzen.

Paradoxerweise entsteht so ein Gefühl von Kontrolle und narzisstischer Größenfantasie. Kontrolle, da die Annahme einer übersinnlichen Macht den Blick auf die chaotische Welt strukturieren kann und all ihre verwirrenden Phänomene als Zeichen dieses Prinzips verstanden und damit einordenbar und handelbar werden. Omnipotenzfantasie, weil durch die Vorstellung einer Verbindung oder eines Eins-Seins mit Natur und Schicksal die damit assoziierte Macht als die eigene empfunden wird.

Damit ist jedoch das Ziel, sich von der unterdrückenden, entfremdenden Gesellschaft zu distanzieren, genau nicht erreicht. Denn Esoterik (zumindest die zeitgenössische, westliche) ist ein Symptom der Spätmoderne und nicht die Lösung der durch diese Epoche verursachten Entfremdung. „Die Rückkehr zu einem mythischen Denken […] ist kein Ausweg aus der gegenwärtigen Krisensituation, sondern ihr Ausdruck“ (Bock 1995: 2), weil sie das im „gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft nicht zur Geltung kommende Bedürfnis der Menschen nach Sinn“ (ebd.: 1) nur scheinbar stützen kann.

Bock, Wolfgang (1995). Astrologie und Aufklärung. Stuttgart: J.B. Metzler.

Foto: privat

Clara Schließler ist Sozialpsychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Else-Frenkel-Brunswik-Institut der Universität Leipzig. Als Mitglied im Zentrum für Performance Studies an der Universität Bremen betreibt sie zudem performative Forschung zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst.