Die Gesellschaft als Hotspot

Franziska Schmidtke und Alexander Wagner

Seit nunmehr einem Jahr leben wir mit COVID-19. Gerne wird gesagt, dass die Pandemie uns alle betrifft. Auch wenn das oberflächlich stimmen mag, sind Betroffenheiten unterschiedlich verteilt. Wer Glück hat, ist nur müde vom Lockdown. Andere kämpfen um ihre Existenz, mental, finanziell oder auf einer der Überlastung nahen Intensivstation. Im letzten Jahr hat sich die ganze Welt in einen Erfahrungsraum für Neues entwickelt: unser Zusammenleben, Lernen, Arbeiten und Konsumieren ist neu ausgerichtet, umgepolt, eingeschränkt, ausgesetzt oder digitalisiert worden. Einiges, was zu Beginn der Pandemie unvorstellbar schien, ist mittlerweile fast Alltag: Home Dining, Home Office und Home Schooling für die einen, Extraschichten, Applaus vom Balkon und Sterben in Einsamkeit für die anderen. Zugleich, das lässt sich nicht übersehen, braut sich vielerorts beunruhigende Wut zusammen. Und zugleich, das lässt sich nur ahnen, überblickt jede_r von uns das alles nur zum Teil.

Wie bereits in vorherigen Projekten eröffnet Sebastian Jung auch in „Hot Spot Society“ einen Think-Tank als künstlerische Geste. In den Texten geht es darum, die Ausnahmesituation aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten, Maßnahmen zu reflektieren, Alternativen zu durchdenken und einen Dialog aufzunehmen. Der reflektierende Blick zurück verkennt dabei nicht, dass ein Ende des Notstands noch auf sich warten lässt. Fragen des gesellschaftlichen Miteinanders werden sich, wenn das Virus unter Kontrolle ist, neu stellen. Der Schwerpunkt unseres Think-Tanks liegt deshalb auf den sozialen Krisen von Millionen von Menschen: Alleinerziehende, Sorgearbeiter_innen, Menschen mit Fluchterfahrung, Angehörige sogenannter „Risikogruppen“, Wohnungslose, Künstler_innen, Freiberufler_innen und viele andere erleben den Entzug von Verdienstmöglichkeiten, sozialen Kontakten, körperlicher und emotionaler Nähe, das Risiko von Ansteckung und Tod, aber auch die Schließung potenziell egalisierender Räume (Öffentlichkeit, Bildungseinrichtungen, Clubs) besonders hart. Die Pandemie und der nötige Schutz vor ihr sind zu Brandbeschleunigern sozialer Probleme geworden. Darum geht es hier.

Expert_innen aus verschiedenen Disziplinen haben ihre Sicht zu dieser für uns alle neuen Situation dargestellt. Inwiefern sie sich dabei auf die Zeichnungen von Sebastian Jung beziehen, blieb ihnen überlassen. Hier treten ihre Texte, direkt oder indirekt, mit den Bildern in Austausch, verbinden sich mit ihnen, grenzen sich von ihnen ab, schließen Leerstellen, erzeugen neue, bieten Erklärungen an oder machen ihr eigenes Ding. Sie teilen den Blick auf die Gesellschaft als Hotspot, als herausgeforderten Aushandlungsort von Miteinander, besonders als Aufgabe für die Politik und als Ereignisraum von Neuem, sei es schlecht oder gut.