Familie

Marina Martinez Mateo

„Stay home“, heißt es heute. „Sozialer Rückzug“, das Gebot der Stunde. Doch Rückzug wohin? Was ist dieser exklusive Ort, der bleibt, wenn das Soziale verschwindet? Was ist dieses „home“ und wer gehört dazu? Welche Formen von Beziehungen sind darin gemeint (und welche nicht), was für Verhältnisse und Rollen sind dabei vorausgesetzt (und welche werden verhindert)? Dann, wenn alle Kontakte und Verbindungen wegfallen, wenn man sich (soweit irgendwie möglich) nur im privaten Raum aufhalten sollte, gibt es eine letzte Instanz, die bleibt: die Familie. Sweet home, das „traute Heim“, meint im Kern die Familie – und es enthält die Bilder und Erwartungen, die dem Ideal der Familie angehören.

Die aktuelle Krise des Sozialen bestätigt und stärkt die Familie als primäre Instanz der Fürsorge. Krise meint dabei nicht nur die andauernde Pandemie, sondern die ihr vorhergehende systematische Individualisierung der Sorge um das eigene Leben. Die Privatisierung von Verantwortung (im Abbau öffentlicher Wohlfahrt) impliziert Familialisierung: die Förderung freiwilliger, gegenseitiger Hilfe (wir können auch sagen: unbezahlter Arbeit), deren Verpflichtungsstruktur in einer affektiven, unmittelbaren Intimität gründet. In der Familie helfen wir uns, weil wir uns „lieben“. Dabei sind dieses Versprechen und diese Verpflichtung bekanntlich ungleich verteilt: Manche fürsorgen mehr als andere – wie die „sorgende Mutter“ weiß, die offenbar besonders durch unbezahlte Arbeit belastet ist, davon aber selbstverständlich nie belastet ist.

Das Ideal der Intimität und deren zusätzlich verstärkte Undurchdringlichkeit im Lockdown ist außerdem mit Gewaltpotenzialen verbunden. Der heteronormativ bestimmte private Raum der Familie lässt – gerade weil er sich als Rückzugsort bestimmt, der dem öffentlichen Blick entzogen ist – eine Gewalt zu, die in öffentlichen Fürsorgeinstitutionen nicht in gleicher Weise zu normalisieren wäre. Gerade durch das Versprechen von Intimität und Liebe werden Machtstrukturen und Zwangsverhältnisse ermöglicht, da sie hinter diesem Versprechen unsichtbar bleiben. Der rechtliche Umgang mit (sogenannten) „Trennungstötungen“ oder die lange währende Blockade, Vergewaltigung in der Ehe als solche zu erkennen, zeigen, wie schwer es weiterhin ist, die spezifische Gewalt der Intimität sichtbar, benennbar und bekämpfbar zu machen. So zeigt auch die nachweislich erhöhte häusliche Gewalt seit Beginn der Corona-Pandemie, dass es andere Formen des Rückzugs braucht, die alternative Gemeinschaftsformen ermöglichen können – wenn wir ein solidarisches und gewaltfreies pandemisches Überleben wollen.

Foto: Robin Hinsch

Marina Martinez Mateo ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Goethe-Universität Frankfurt. Sie hat zur „Politik der Repräsentation“ promoviert und arbeitet seitdem zu Ökonomie und Familie; Aufklärung und „Rasse“-Begriff; Identität und Universalismus sowie Liberalismus und Autoritarismus.