Katharina Hoppe
Der öffentliche Raum hat sich seit März 2020 eklatant verändert: Er ist Zufluchtsort, um überhaupt noch andere Menschen sehen zu können; er war und ist aber auch ein Raum, der im Zuge der Pandemie prekär geworden ist. Personen wechselten etwa die Straßenseite, suchten ihrem Gegenüber auszuweichen – das Spiel aus Nähe und Distanz, das Sozialität ausmacht, wurde rekonfiguriert. Mal wurde das Ausweichen mit einem wissenden und freundlichen Nicken quittiert, mal spuckte das Gegenüber verächtlich auf die Straße. Öffentliches Spucken, eine männlich konnotierte Kulturpraktik, und Speichel erhalten vor dem Hintergrund der Diskussion um Aerosole und den wiederkehrenden Bildern von Test-Abstrichen in den Nachrichten eine neue Bedeutung. Eine sorgfältig verdrängte Tatsache hält Einzug ins Alltagsleben: Auch Speichel und unser Atem haben etwas mit der Konstitution von Gesellschaften zu tun, sie binden uns aneinander – freiwillig und unfreiwillig.
Mit diesen Entwicklungen einhergehend haben sich veränderte Ausdrücke von Gewalt und Grenzüberschreitungen herausgebildet. Die pandemische Aggression wird spürbar, wenn ein älterer Herr im Supermarkt die Maske runterzieht, um brüllend nach einer zweiten Kasse zu fragen. In der gegenwärtigen Aneignung öffentlicher Räume wird sie aber besonders durch Corona-Leugnungs- oder Querdenker-Demonstrationen deutlich. War zu präpandemischen Zeiten die Vermummung auf Demonstrationen ein sicherer Grund, von der Polizei angesprochen oder in Gewahrsam genommen zu werden, liegt die Provokation heute darin, das Gesicht nicht zu verhüllen. Das scheint die Polizei jedoch deutlich seltener als solche aufzufassen. Die besondere Aggressivität auf den Querdenker-Demonstrationen zeichnet sich dadurch aus, dass Grenzüberschreitungen im Gewand von „Liebe, Freiheit, Demokratie“ zum Tragen kommen können, während die Person neben einem die Reichsflagge schwenkt.
Herzchen-Luftballons auf den Demonstrationen kaschieren die Verzweiflung über die eigene Verletzlichkeit und Abhängigkeit, die derzeit so deutlich spürbar wird. Die abgewehrte eigene Verwundbarkeit findet ihren Ausdruck in einer Aggression auf alles, was an diese Abhängigkeit erinnert: Masken, Impfungen, verwundbare Personen. Damit wird negiert, dass eine Pandemie es uns abverlangt, die biosozialen Verbindungen, die Gesellschaft ausmachen (etwa den Speichel), zu konfrontieren. Es ist ein Fehler, zu denken, es wäre dieser Tage ein gewaltloses Statement, in dieser Weise auf „Liebe“ und „Freiheit“ zu beharren. Grenzüberschreitung und Gewalt, das zeigt unsere Gegenwart, fangen da an, wo nicht nur die eigene, sondern die Verletzlichkeit des anderen gleich mit verleugnet wird.
Katharina Hoppe lehrt und forscht am Institut für Soziologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ihre Schwerpunkte liegen in der soziologischen, politischen und feministischen Theorie sowie der Soziologie sozialer Ungleichheit mit besonderem Fokus auf intersektionale Perspektiven auf ökologische Krisen.