Brauchen wir ein Schulfach Veränderung? Corona und Geschichte: eine Polemik

Frauke Geyken

Fragen wir doch die „Hexe“ auf dem Scheiterhaufen, was schlimmer ist: Im Inferno der Inquisition zu verbrennen oder beim Einkaufen in der „Merkeldiktatur“ eine Maske tragen zu müssen? Was würde die „Hexe“ denjenigen sagen, die ihr historisches Leben und Sterben in Analogie sehen zum eigenen saturierten Dasein in einem funktionierenden Rechtsstaat? Sie wäre wohl ratlos angesichts dieses haltlosen Vergleichs.

Was verleitet die sogenannten „Corona-Leugner und -Leugnerinnen“ zu dieser Anmaßung? Ist es Unwissen, die pure Lust an der Provokation oder der Wunsch, gesehen zu werden? Geschichte ist kein Kostümkoffer, aus dem man sich wahllos das passende Gewand herausziehen kann, in diesem Falle das Opfergewand. Der Blick in den „fernen Spiegel“1 in die Vergangenheit konfrontiert uns mit unserer eigenen Gegenwart: Denn wir sind, was wir sind, weil wir geworden sind, was wir sind, ebenso wie die Gesellschaft, in der wir leben, sich aus der jeweiligen historischen Situation heraus entwickelt. „Was ist der Mensch ohne seine Geschichte?“, fragt die Philosophin Hannah Arendt und fährt fort: „Produkt der Natur, und nichts Persönliches. […] Die große Geschichte, in der unsere kleine Geburt sich fast verliert, muss kennen und abschätzen können, wer von ihr Schutz und Hilfe erwartet.“2

Vielleicht wird eines Tages das Corona-Jahr 2020 als der erlösende Moment genannt, an dem Veränderungen möglich wurden. Denn die Ausnahmesituation hat uns Problemszenarien wie in einem Brennglas vor Augen geführt: Wir brauchen neue Wohnformen, um der Vereinsamung entgegenzuwirken. Eng verknüpft damit sind moderne Konzepte für die Innenstädte nach dem Siegeszug des Onlinehandels. Mitten in der digitalen Revolution brauchen wir neue Ideen für Kitas, Schulen, Ausbildung, Universitäten, Bibliotheken und Museen. Die Herausforderungen sind nicht durch besinnungslose Digitalisierung zu lösen; neue Arten der Kommunikation könnten helfen, die Sprachlosigkeit zwischen den einzelnen Blasen zu überwinden. Last but not least brauchen wir neue Verkehrskonzepte als Teil einer umfassenden Klimapolitik.

Veränderung ist nötig, erfordert jedoch Anstrengung, die viele von uns nicht leisten wollen, weil sie ihre Komfortzone nicht verlassen wollen, andere nicht leisten können, weil sie Veränderung als Bedrohung erleben. Wer sich mit Geschichte befasst, erkennt: Geschichte ist Anarchie; wir alle lebten und leben in dauernder Veränderung. Brauchen wir ein Schulfach Veränderung? Vielleicht reicht schon guter Geschichtsunterricht, um Blasen platzen und Menschen wieder miteinander ins Gespräch kommen zu lassen.

1 Tuchman, Barbara (1978), Der ferne Spiegel. München: Pantheon.

2 Arendt, Hannah (1987 [1959]). Rahel Varnhagen. München: Piper, S. 16.

Foto: Wilder (Göttingen)

Frauke Geyken hat Geschichte, Skandinavistik und Anglistik in Göttingen und Lund studiert. und für ihre Dissertation in London geforscht. Sie war mit Unterbrechungen von 2000 bis 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Göttingen und ist seit 2008 als historische Publizistin tätig. Zahlreiche Veröffentlichungen, u.a. Das britische Deutschlandbild im 18. Jahrhundert (Frankfurt/Main 2002), Freya von Moltke. Ein Jahrhundertleben (München 2011), Wir standen nicht abseits. Frauen im Widerstand gegen Hitler (München 2014) oder Zum Wohle aller. Geschichte der Universität Göttingen (Göttingen 2019).