von Jörn Ahrens
Jungs Zeichnungen von Demos gegen Corona zeigen selten den ganzen Protest. Meist sind es einzelne Figuren, fast immer frontal dargestellt, Hintergründe fehlen. Dafür gibt es Accessoires, mit denen die Figuren ausstaffiert sind: Schilder, Fahrrad, T-Shirts mit Slogans, Hüte, Grundgesetz. Ohne dies wären die Figuren nicht zuzuordnen. Jung zeichnet krakelige Formen, die Kinderzeichnungen imitieren, oft doppelbelichtet als durchsichtige Körper. Die gewollt ungelenke Strichführung löst die Körper auf, die in bizarren Formen zu verschwinden scheinen. Diese Menschen sind zuallerletzt Individuen; sie werden völlig amorph, ihre Formen scheinen selbst auf die nicht menschlichen Objekte zu verweisen, von denen sie unsichtbar umgeben sind und gegen deren politische Positionierung sie protestieren. Mit ihren wurmigen Köpfen, die in der Regel bloß zwei Punkte als Augen und einen Mund haben, meist aber keine Nase, werden sie absolut austauschbar. Die panelartige Aneinanderreihung der Bilder vermittelt zwar den Eindruck, es handele sich um viele, die da getrennt oder gemeinsam auftreten (man weiß es nicht), es könnte aber auch die immer gleiche Figur sein (von Personen möchte man wirklich nicht sprechen), die sich ständig, bloß anders wiederholt. Diese Austauschbarkeit der Figuren, die alle eigenschaftslos und nur durch ihre Accessoires charakterisiert sind, trifft aber nicht nur die Demonstrierenden, sondern ganz genauso die Polizei. Auch Polizisten lassen sich nur dank der nicht einmal ausgeschriebenen Funktionsschriftzüge erkennen. Das Wort „Poliz“ lässt sich unschwer ergänzen zu Polizei und erinnert an schlechte Karikaturen. Wie einen Reigen inszeniert Jung diese Parade der Demonstrierenden, die eine Spielzeugwelt zu bewohnen scheinen, in der alles so unecht und absurd aussieht, wie es im wirklichen Leben zweifellos auch wirkt. Der Protest wirkt dann wie eine Inszenierung als Ästhetik des Hässlichen. Die Zeichnungen werden zur Dokumentation einer unwirklich werdenden Welt, die aus einer Gemengelage an Abstrusitäten besteht, die keinen Ort haben, aus der Zeit gefallen sind und eher aussehen wie Kinderspiele denn wie politisches Handeln. So zeigen diese Zeichnungen eine Entpolitisierung des politischen Protests. Jeder murrt für sich allein, scheinbar individualistisch, aber auch egozentrisch. Was fehlt, ist das Verbindende zwischen den Menschen, die bloß noch Figuren sind.
Jörn Ahrens ist Professor für Kultursoziologie, Justus-Liebig-Universität Gießen & Extraordinary Professor of Social Anthropology, North West University, Südafrika. Zuletzt erschien der von ihm herausgegebene Band Der Comic als Form. Bildsprache, Ästhetik, Narration (Berlin 2021, Bachmann Verlag).