Jutta Henke
Am Gabenzaun hängt die Solidarität in Tüten. In Berlin, Hamburg und Münster, in Elmsbüttel, Velbert und Iserlohn – Plastikbeutel, transparent und blickdicht, an ordentlich beschrifteten schmiedeeisernen Gittern oder an wackligen Bauzäunen mit durchweichten Pappschildern.
Wohnungslose Menschen haben in der Pandemie kein Einkommen. Wenn niemand in der Stadt bummelt, ist Betteln sinnlos. Pfandflaschen? Fehlanzeige – es geht doch keiner zum Fußball oder mit der Bio-Limo to go zum Treffen mit Kumpels. Verdienstausfall für Obdachlose. Und die Suppenküchen haben zu.
Die Pandemie schärft die Wahrnehmung: Armut und Mangel der Unversorgten springen ins Auge. Dass nicht zu Hause bleiben kann, wer keine Wohnung hat, leuchtet unmittelbar ein. Nie waren Bürgerinnen und Bürger so ehrlich besorgt um Menschen ohne Wohnung wie im Frühjahr 2020.
Alles wäre gut, wenn es dabei nicht bliebe. Doch während etwa bei unseren europäischen Nachbarn in England die Kampagne „Everyone in“ dafür sorgte, dass innerhalb kürzester Zeit zehntausende Wohnungslose mit staatlichen Mitteln von der Straße geholt und in Hotels mit einem Dach über dem Kopf sicher versorgt wurden, boomt in Deutschland: die Barmherzigkeit. Mahlzeiten werden nun auf die Platte geliefert. Mit Millionen wurden die „Versorgungsketten“ der Tafeln gestützt. Nur hilft das weder gegen Corona noch gegen Wohnungslosigkeit.
Die Pandemie macht blind. Das Elend der Obdachlosen vor unseren Augen verstellt uns den Blick. Darauf, dass es nicht normal ist, auf der Straße zu leben. Darauf, dass die meisten Menschen ohne Wohnung vor gar nicht langer Zeit eine eigene Wohnung besaßen und irgendwann, ohne Hoffnung, noch etwas retten zu können, die Tür hinter sich zuzogen. Darauf, dass nur eine eigene Unterkunft das Zuhausebleiben ermöglicht.
Indem man die Hilfen für Menschen aus der Straße ausbaut, verliert man aus den Augen, wo die Problemlösung liegt. Denn Wohnungslosigkeit ist ein lösbares Problem und kaum ein Sozialstaat verfügt über so viele gut funktionierende Instrumente zu ihrer Bekämpfung wie der deutsche. Eine Stadt kann sich verabreden, Wohnungslosigkeit nicht mehr hinzunehmen. No Covid? – Genau, und No Homelessness.
Jutta Henke ist Geschäftsführerin der Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung e.V. (GISS), Bremen. Sie forscht unter anderem zu Wohnungslosigkeit und Teilhabe, evaluiert soziale Dienstleistungen und berät Kommunen und freie Träger bei der Weiterentwicklung fachlicher Konzepte sozialer Hilfen.