Irmtraud Gutschke
Risikogruppe: Abgestempelt ist, wer dazugehört. Zu denen über 65 kommt das Virus am liebsten. Gefährdete oder Gefährder? Die „Alten“ und die „Jungen“ – getrennt durch eine Grenze der Zugehörigkeit. Da könnt ihr euch die Haare färben, die Seuche erkennt euch. Haltet euch fern! Seid dankbar für die geschenkten Masken! Im Briefkasten steckt ein rührender Kinderbrief: Felix von nebenan will für uns einkaufen gehen, damit wir nicht mehr aus dem Hause müssen. Hausarrest also? Seid froh, in den eignen vier Wänden zu sein und nicht dort, wo andere landen.
Anstalt 1: Zufrieden magst du sein, wenn du einen Platz hier hast. Zwar teuer bezahlt, doch bist du geschützt. Allein in deinem Bett. Die Tür ist verschlossen. Das Virus kann weder herein noch heraus. So gut geht es anderen nicht wie dir im PFLEGEHEIM. Abgefüttert und gewindelt. Zum Kind gemacht, aber nicht umarmt. Im Sinne einer Gesundheit, mit der‘s schon nicht mehr weit her ist. Unter Aufsicht Tag und Nacht. Freiheitsberaubung? Durchs Fenster durftest du deine Lieben sehen. Zeige dich freudig, weine erst, wenn sie gegangen sind. Dein Privileg: Die Alten bekommen die Spritze zuerst – man vertraut ihrer körperlichen Kraft. Sei folgsam in deinem und in aller Sinne. Erst wenn alle geimpft sind, zieht sich die Seuche zurück.
Anstalt 2: Deine Schuld, dass du nun hier bist. Hast dich wohl nicht an die Regeln gehalten. Das Virus schlüpfte unter deiner Schwelle durch? So nimm es demütig hin. Jetzt hängt nichts mehr von dir ab. Ein Raum mit vielen Betten, Vorhänge dazwischen. Eine Corona-Station: Hast du ein Wellnesshotel erwartet? Die Leute hier arbeiten bis zum Umfallen. Und du liegst bequem, immerhin. Welche Ansprüche willst du noch stellen, unter kaltem Neonlicht? Niemand wird dir hier die Hand halten, wenn du stirbst. Hast es dir selber zuzuschreiben.
Tod und Leben: Kommt er in Schwarz oder in Weiß? Jedenfalls nicht jetzt. Angst schwächt das Immunsystem. Schalte den Fernseher aus, wenn sie dir Kühlwagen zeigen, die voller Leichen sind, oder ein Krematorium, in dem sich Särge mit der Aufschrift „Corona“ stapeln. Vor deinen Augen wurde einer in den Verbrennungsofen gefahren. Es ist wie eine Drohung, wappne dich gegen die Panikgespenster.
Weise dem Tod die Tür, aber jag nicht gleich das Leben mit hinaus.
Irmtraud Gutschke (*1950 in Weimar) ist promovierte Literaturwissenschaftlerin, Journalistin und Literaturkritikerin sowie Autorin von Büchern über Tschingis Aitmatow, Hermann Kant, Eva Strittmatter und Gisela Steineckert.